„Im Wald zwei Wege boten sich mir dar, und ich ging den, der weniger betreten war…“; schrieb einst Robert Frost. Und sofort tauchen Bilder in unserem Kopf auf: ein verwachsener, einsamer Wald an einem Frühlingsmorgen. Die Sonnenstrahlen tanzen ihren Weg durch das Dickicht der Bäume und verwandeln alles in einen Traum aus Zeitlupe. Angepasst an den Rhythmus des Windes gehen Sie über den vom Tau geweichten Boden; Ihre Finger spüren hie und da das kühle Nass auf den Blättern um Sie herum… plötzlich eine kleine Berührung; Haut auf Haut. Sie ist so schnell weg, wie sie gekommen ist. Ein Lächeln huscht über Ihr Gesicht. Ein verstohlener Blick in Richtung der Berührung offenbart den bittersüßen Schmerz. Sie geht neben Ihnen – die Liebe, der Sie sich nie ganz anvertrauen konnten. Unausgesprochene Worte, unbeantwortete Fragen schweben in der Luft mit den Blüten um die Wette – vom Winde verweht. Zwei Menschen vereint durch die laute Stille zwischen Ihnen… und die Gewissheit, dass eigentlich beide den gleichen Weg bestreiten.
Eine Szenerie wie aus einem alten Film in Sepia fühlt sich der neue musikalische Geniestreich des jungen Ausnahmekünstlers aus Wuppertal an. Leon Mucke hat es wieder einmal geschafft eine treibende Ruhe in unseren Alltag zu zaubern – im wahrsten Sinne des Wortes. Die sparsam eingesetzten Instrumente, seine samtige Stimme, der wir so ziemlich alles glauben, was sie uns singt und das durchdachte Arrangement machen „Lass mich treiben“ zu einer ehrlichen, willkommenen Pause in unserem viel zu komplizierten, viel zu durchgetakteten Leben.
Die einfachen doch ausgereift methodischen Worte verwandeln „Lass mich treiben“ in ein modernes Gedicht, das unsere schnelllebige Zeit mit einem Lächeln ad absurdum führt. Man könnte fast meinen, der junge Wuppertaler hätte eben in jenem Wald jenseits aller Singularität der Zeit, einen Abend mit Robert Frost selbst verbracht.
„Lass mich treiben“ nimmt uns auf einen kleinen Roadtrip – ruhig zu Beginn, wenn man noch nicht weiß, wohin die Reise geht, bis es uns mit einem großen Crescendo zum Ziel führt… und wir erkennen, dass die Befreiung die ganze Zeit über vor uns lag, der Weg immer schon das Ziel war und der Wunsch nach der Reise selbst uns stets treiben ließ.
– Dilâra Baskıncı